Zeitungsartikel I Handelsblatt Journal I 26.10.2021
Einzelhandel nach Corona:
Überzeugende Customer Experience als Notwendigkeit des Überlebens
Lange Zeit hat der stationäre Einzelhandel zu den Wirtschaftsbereichen gehört, denen eine besondere Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Wettbewerbssituation und sich wandelnde Erwartungen seiner Kunden attestiert wurde. Der Ausdruck ‚Handel ist Wandel‘ ist eine damit assoziierte Vokabel – jahrzehntelang hat er für die Entwicklung hoch erfolgreicher und Branchen-prägender Betriebsformen wie Warenhäuser, Super- und Discountmärkte oder Shopping- und Outlet-Center gestanden.
Mit der Digitalisierung der Wirtschaft und der damit verbundenen Entstehung völlig neuer Geschäftsmodelle hat sich die Strahlkraft der ehemaligen Erfolgsformel jedoch deutlich abgeschwächt. Denn im Internet hat sich über die Etablierung hoch erfolgreicher Online-Shops, ganzer Marktplätze oder viel genutzter Preisvergleichsportale eine neue Konkurrenz entwickelt, die das Angebot hoch übersichtlich in einem virtuellen Umfeld präsentiert. Und das nicht nur ‚24/7‘ rund um die Uhr und sogar am Wochenende von zu Hause aus, sondern auch mit dem Smartphone von jedem beliebigen Ort unterwegs. Und während diese neuen Einkaufsmöglichkeiten mit ihrer Suchbegriff-Logik anfangs eher nur Zielkäufer bedienen konnten, befriedigen die neuen Möglichkeiten des Social Shopping auch das Bedürfnis nach Inspiration und Anregung beim Einkauf.
Im Ergebnis werden mittlerweile mehr als 10 Prozent aller Einzelhandelsumsätze über onlinebasierte Geschäftsmodelle getätigt – mit steigender Tendenz. Und während schon vor der Corona-Pandemie darüber berichtet wurde, dass der Einzelhandel zum Opfer der Digitalisierung werde, so wird diese Entwicklung durch die Folgen der langen Lockdowns noch einmal auffallend verstärkt. Denn eine Vielzahl von Studien belegt, wie nachhaltig und dauerhaft sich die Einkaufsgewohnheiten durch die Pandemie verändert haben – mit einer deutlich stärkeren Nutzung von Online-Angeboten und einer noch kritischeren Hinterfragung des eigenen Konsumverhaltens. Und das belegt zum einen, dass der Online-Handel nochmals stark dazu gewinnen wird, zweitens aber auch, dass das Einkaufserlebnis eine noch höhere Bedeutung erlangen wird.
Zu den besonderen Erfolgsfaktoren des Online-Handels zählt eine unbedingte Kunden- und Erlebnisorientierung sämtlicher Gestaltungsaspekte und Prozessfaktoren in der Realisierung der jeweiligen Geschäftsmodelle. Nicht nur, dass vom Amazon-Gründer Jeff Bezos berichtet wird, dass er seinen großen Erfolg auf die kompromisslose Orientierung sämtlicher Prozesse bis in das letzte Detail an den Wünschen seiner Kunden zuschreibt. Auch Tarek Müller, der Gründer des noch immer recht jungen, mittlerweile jedoch bereits an der Börse gelisteten Online-Shops AboutYou, begründet den rasanten Aufstieg seines Online-Shops mit einer strikten Ausrichtung des gesamten Konzepts an den Wünschen seiner Kunden und einer damit im Wettbewerbsvergleich hervorstechenden Erlebnisqualität.
Ein überzeugendes Einkaufs- und Konsumerlebnis ist deshalb so wichtig, weil es sich lange und fest im Gedächtnis des Konsumenten verankern kann – im Gegensatz zu den häufig eher unpersönlichen, hoch standardisierten und verstärkt als oberflächlich wahrgenommenen Marketingmaßnahmen. Und wie die Vielzahl von Beratungsangeboten, Seminaren und Tagungen unter Überschriften wie „Der Weg zu Experience-driven Commerce“ oder „Der Weg zum erlebnisbasierten Unternehmen“ belegt, ist das Thema Erlebnis und Prozessqualität als zentraler Erfolgsfaktor im E-Commerce erkannt worden – es gibt dort kaum ein Unternehmen, das nicht permanent an der User- oder Customer Experience arbeitet und seine Prozesse laufend optimiert.
‚Kunden- und Erlebnisorientierung‘ – diesen Aspekt hatte in der Vergangenheit eigentlich immer der stationäre Handel als ureigene Domäne für sich beansprucht. Allerdings: Wenn dieser aktuell im Vergleich mit den neuen Online-Anbietern so dramatisch an Bedeutung verliert, dann muss er seine eigenen Prozesse noch stärker hinterfragen und möglicherweise auch mit den Erlebnisdimensionen im Online-Einkauf vergleichen. Denn es ist spannend, dass traditionelle Geschäftsmodelle gerade von den Wettbewerbern im Internet lernen können – dort beheimatete Unternehmen leben eine umfassende Kundenorientierung über sämtliche Gestaltungsmomente hinweg.
So begnügen sich Unternehmen des E-Commerce in der Gestaltung des Einkaufserlebnisses nicht nur mit einem auf den Kunden abgestimmten Sortiment, sondern beziehen sämtliche Bedien- und Abwicklungsprozesse bis in das kleinste Detail mit ein: Bei Online-Anbietern werden einzelne Produkte durch die Einbindung spannender Tutorials, lebendiger Bewegtbild-Sequenzen oder hilfreicher Erfahrungen anderer Kunden mit noch mehr Informationen versehen. Die meisten klassischen Anbieter sortieren ihre Sortimente zumeist kommentar-/emotionslos im Regal ein. Und wo im Internet das eigentliche Produktangebot durch sinnvolle Begleitartikel ergänzt wird, stolpert man in vielen klassischen Modellen über offensichtlich Margen-gesteuerte Sonder- und Postenaufbauten. Während der Klickaufwand im Kassen- und Check Out-Prozess zur Erhöhung des Kundenerlebnisses im Onlinehandel fortlaufend optimiert wird, fühlen sich Konsumenten im Supermarkt an der Kasse getrieben, ihre Einkäufe schnellstens einpacken zu müssen, um Platz für den nächsten Kunden zu machen.
Die systematische Beobachtung, Bewertung und daraus abgeleitete Optimierung einzelner Prozessschritte erfolgt bei Online-Anbietern unter dem Überbegriff ‚User Experience‘ – eine Denkweise, der in vielen klassischen Geschäftsmodellen offensichtlich nicht mehr gelebt wird; für diese allerdings viel Gestaltungspotential bietet. Dabei erfordern Customer Centricity und User Experience eine neue Perspektive in der Bewertung sämtlicher Geschäftsprozesse: Im Vordergrund dürfen nicht mehr allein Kosten- und Effizienz-getriebene Überlegungen aus einseitiger Sicht des Unternehmens stehen – die tatsächlichen Wünsche und Bedürfnisse des Kunden müssen der Maßstab der Bewertung werden. Nur wenn Einzelhändler aufhören, wie Einzelhändler zu denken, werden sie im Wettbewerbsvergleich wirklich innovativ sein.
Manche Manager mögen an dieser Stelle einwenden, dass die Gestaltungsstandards des Internet kaum Gültigkeit für klassische Geschäftsmodelle haben. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass Konsumenten die Gestaltungsqualität dortiger Prozesse tagtäglich erleben und ganz offensichtlich wertschätzen. Mit einer derart geprägten Konditionierung steigen auch die Erwartungen und das Anspruchsniveau gegenüber allen anderen Unternehmen – und darauf müssen sich gerade klassische Anbieter einstellen. Früher wurden unter dem Anglizismus ‚Mystery Shopping‘ Analysen durchgeführt, um die eigenen Prozesse noch effizienter zu gestalten; heute müssen solche Analysen gestartet werden, um den gesamten Einkaufsprozess in all seinen Facetten aus der Kundensicht heraus zu bewerten – eine schonungslose Analyse der gesamten Prozesskette der Customer Experience.
Neben der isolierten Prozessqualität muss dabei auch die generelle Konzeptqualität des Einzelhandels hinterfragt werden. Denn ein zusätzliches Bedrohungspotential für stationäre Händler ist der zunehmende Eintritt branchenfremder Unternehmen in den direkten Vertrieb über eigene Ladengeschäfte. Unter den Vokabeln ‚Direct-to-Consumer‘ und ‚Vertikalisierung‘ suchen Hersteller in mittlerweile fast allen Sortimentsbereichen den direkten Weg zum Konsumenten – und das am klassischen Einzelhandel vorbei. Über hoch professionell realisierte Fachgeschäfte, spannend inszenierte Flagship- oder temporäre Pop-Up-Stores in den besten Lagen. Besonders interessant ist dabei auch, dass immer mehr ehemalige ‚Online Only‘ Unternehmen diesen Weg für sich entdecken und über außergewöhnliche, attraktive Ladenbau- und Inszenierungskonzepte neue Standards setzen – und das auch noch in einer nahezu perfekten Vernetzung von Offline- und Online-Welt.
Konsumenten lassen sich durch solche Konzepte begeistern und werden in ihrer Erwartungshaltung für das stationäre Einkaufserlebnis neu konditioniert. Denn mit ihren Einrichtungs- und Inszenierungsansätzen zeigen die neuen Anbieter eine ganz andere, ungewohnte und überraschende Art der Warenpräsentation und Konsumerlebnisses. Was insofern nicht verwundert, weil die neuen Player ihre Geschäfte nach ganz anderen Maßstäben betreiben als ihre klassischen stationären Wettbewerber; ihre Geschäfte werden damit eher als Marketing- und Brand-Invest betrachtet als eine nur auf Effizienz getrimmte Vertriebsmaschine. Das Motto dieser Anbieter scheint eher ‚Erlebnis pro Quadratmeter‘ als das ehemalige ‚Umsatz pro Quadratmeter‘ zu lauten.
Damit wird deutlich, dass wir in der heutigen Welt nicht länger vom Point of Sale sprechen dürfen – von unserem gesamten Denken und Handeln müssen wir zur bewussten Gestaltung eines Point of Experience gelangen. Ganzheitlich aus Sicht der Kunden über sämtliche Gestaltungs- und Prozessebenen bis in das kleinste Detail. Nur so wird eine Customer Centricity für Kunden unmittelbar erlebbar.
Kostenloser Download zur ‚The Future of Retail‘-Ausgabe Oktober 2021:
Der Autor:
Prof. Dr. Wolfgang Merkle ist Professor für Marketing & Management an der UE – University of Europe for Applied Sciences in Hamburg sowie Inhaber von ‚Merkle. Speaking. Sparring. Consulting.‘ Davor war über 25 Jahre als CMO, Bereichsvorstand, Geschäftsführer und Direktor bei Tchibo, Galeria Kaufhof, ZARA, Massimo Dutti und Otto tätig.
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